Es gab unzählige Situationen, die uns an den Rand des Nervenzusammenbruchs trieben.
Ich habe ab der Geburt meines Bruders sehr viel Zeit mit ihm verbracht. Und keine Sekunde bereut. Aber ich war auch ein Kind und konnte ihm nicht immer die ihm absolut notwendige Aufmerksamkeit bieten. Genauso wenig wie meine Mutter, oder all die anderen Mütter, Väter und Geschwister von Kindern mit Besonderheiten. Ein paar solcher Vorfälle haben sich mir so dermaßen ins Gedächtnis gebrannt,dass ich sie wahrscheinlich nie vergessen werde.
Zu diesen gehören folgende:
Als er 4 war, verschluckte er sich an einem Lutschbonbon. Er war am ersticken, bekam violette Punkte am ganzen Körper und das Blut schoss ihm in die Augen. Meine Mutter hielt ihn mit dem Kopf nach unten und drückte ihm auf das Zwerchfell. Ohne wirklich zu verstehen,was sie da tat. Sie hatte sichtlich höllische Angst, sowie ich auch.
Plötzlich sprang das Bonbon aus seinem Hals heraus, er schnappte nach Luft. Und bekam langsam seine normale Hautfarbe zurück. Die violetten Punkte blieben noch einige Wochen, bis auch sie verschwanden und wir diesen Vorfall vergessen konnten, zumindest teilweise. Ich kann bis heute nicht zuschauen,wenn Kleinkinder essen und sich dabei verschlucken.
Einmal lief er mir weg.
Er liebt Wasser und alles,was damit zu tun hat. Wir wohnten in der Nähe eines Sees. Es ist wie bei allen solchen Situationen. Man dreht sich nur einen kurzen Moment weg und das Kind ist schon verschwunden.
Ich war 15 und war in diesem Augenblick mit Freunden in einem Garten 2 Minuten entfernt von unserer Wohnung.
Zusammen mit den Freunden begann ich die Suche nach ihm. Zu diesem Zeitpunkt noch ohne meine Mutter davon in Kenntnis zu setzen. Ich hatte Angst, davor was mit meinem Bruder hätte passieren können und vor ihrer Reaktion. Wir suchten ihn am Teich in kurzer Entfernung, auf Spielplätzen, in Einkaufsläden und auf Parkplätzen. Ohne Resultat. Dann sagte jemand aus meinem Freundeskreis,dass das nichts bringt und er wahrscheinlich zum See gelaufen ist.
Da bekam ich Panik. Ich verstand, jetzt muss ich meiner Mutter bescheid geben. Ich schleppte mich in unsere vierte Etage und drehte langsam den Schlüssel im Schloss herum.
Bevor ich die Tür öffnen konnte, hörte ich ihn plötzlich. Ich dachte schon das wären Halluzinationen. Aber nein, er ließ wieder von sich hören. Von der sechsten Etage herab zu meiner erdrückenden Laune. Ich schloss leise die Tür und begab mich in Richtung sechsten Stock. Voilà! Da kam er schon aus der geöffneten Haustür unserer Nachbarn. Welche mir mit Lächeln erzählten, dass er sich in der Küche bedient hat und dann auf dem Bett der Tochter herumgesprungen ist. Ich entschuldigte mich, schnappte ihn mir und wir gingen nach Hause. Dort hab ich dann auch die ganze Geschichte meiner Mutter erzählt. Sie war natürlich nicht sauer, sagte aber,dass ich das nächste Mal sofort zu ihr kommen soll.
Ein nächstes Mal gab es zum Glück nie wieder bei mir.
Einmal zu Silvester machte ich mich fertig für eine Feier mit Freunden. Ich war in einem Zimmer, das weiter weg lag vom Wohnzimmer. Und doch hörte ich plötzlich die Schreie meiner Mutter. Ich solle einen Krankenwagen rufen. Ich lief aus dem Zimmer. Noch im Laufen wählte ich die 112. Mein Bruder hatte wieder einen epileptischen Anfall. Daran gewöhnt man sich nie. Man weiß irgendwann was alles zu tun ist. Und trotzdem bleibt es mir auf ewig ein Geheimnis,wie man Ruhe bewahrt. Ich bin mir nicht sicher,dass es überhaupt Menschen gibt, die in solch einer Situation ruhig bleiben.
Man ruft den Krankenwagen. Man hofft,dass er pünktlich kommt. Und man zittert trotzdem am ganzen Körper und betet, dass das Scheiss-Krankenhaus einem erspart bleibt.
Irgendwann wenn die Krampfanfälle vorbei sind und mein Bruder todmüde aus unseren Händen auf die Couch fällt,rufen die Leute vom Krankenwagen an und fragen,wie sie denn zu unserem Eingang besser durchfahren können. Alter, ganz ehrlich, ich weiß es nicht und es ist mir auch herzlich egal. Das müssten sie wissen. Tun sie aber nicht. Das ist noch enttäuschender. Besonders,wenn man bedenkt,dass wir mit einem epileptischen Anfall nicht klar kommen würden. Man weiß nie!
Ich weiß aber, dass ich mich nicht auf die Sanitäter verlassen kann.
Ich kam übrigens noch zu der Silvesterfeier. Der Anfall verging sehr schnell. Wahrscheinlich war er ausgelöst von den ganzen grellen Lichtern, die selbst einem Nicht-Epileptiker Anfälle verursachen würden. Seit knapp anderthalb Jahren gab es keine Anfälle…