Wie lebt man mit einem Autisten Teil V

Es gab unzählige Situationen, die uns an den Rand des Nervenzusammenbruchs trieben.
Ich habe ab der Geburt meines Bruders sehr viel Zeit mit ihm verbracht. Und keine Sekunde bereut. Aber ich war auch ein Kind und konnte ihm nicht immer die ihm absolut notwendige Aufmerksamkeit bieten. Genauso wenig wie meine Mutter, oder all die anderen Mütter, Väter und Geschwister von Kindern mit Besonderheiten. Ein paar solcher Vorfälle haben sich mir so dermaßen ins Gedächtnis gebrannt,dass ich sie wahrscheinlich nie vergessen werde.
Zu diesen gehören folgende: 

Als er 4 war,  verschluckte er sich an einem Lutschbonbon. Er war am ersticken, bekam violette Punkte am ganzen Körper und das Blut schoss ihm in die Augen. Meine Mutter hielt ihn mit dem Kopf nach unten und drückte ihm auf das Zwerchfell. Ohne wirklich zu verstehen,was sie da tat. Sie hatte sichtlich höllische Angst, sowie ich auch.
Plötzlich sprang das Bonbon aus seinem Hals heraus, er schnappte nach Luft. Und bekam langsam seine normale Hautfarbe zurück. Die violetten Punkte blieben noch einige Wochen, bis auch sie verschwanden und wir diesen Vorfall vergessen konnten, zumindest teilweise. Ich kann bis heute nicht zuschauen,wenn Kleinkinder essen und sich dabei verschlucken.

Einmal lief er mir weg.
Er liebt Wasser und alles,was damit zu tun hat. Wir wohnten in der Nähe eines Sees. Es ist wie bei allen solchen Situationen. Man dreht sich nur einen kurzen Moment weg und das Kind ist schon verschwunden.
Ich war 15 und war in diesem Augenblick mit Freunden in einem Garten 2 Minuten entfernt von unserer Wohnung.
Zusammen mit den Freunden begann ich die Suche nach ihm. Zu diesem Zeitpunkt noch ohne meine Mutter davon in Kenntnis zu setzen. Ich hatte Angst, davor was mit meinem Bruder hätte passieren können und vor ihrer Reaktion. Wir suchten ihn am Teich in kurzer Entfernung, auf Spielplätzen, in Einkaufsläden und auf Parkplätzen. Ohne Resultat. Dann sagte jemand aus meinem Freundeskreis,dass das nichts bringt und er wahrscheinlich zum See gelaufen ist.
Da bekam ich Panik. Ich verstand, jetzt muss ich meiner Mutter bescheid geben. Ich schleppte mich in unsere vierte Etage und drehte langsam den Schlüssel im Schloss herum.
Bevor ich die Tür öffnen konnte, hörte ich ihn plötzlich. Ich dachte schon das wären Halluzinationen. Aber nein, er ließ wieder von sich hören. Von der sechsten Etage herab zu meiner erdrückenden Laune. Ich schloss leise die Tür und begab mich in Richtung sechsten Stock. Voilà! Da kam er schon aus der geöffneten Haustür unserer Nachbarn. Welche mir mit Lächeln erzählten, dass er sich in der Küche bedient hat und dann auf dem Bett der Tochter herumgesprungen ist. Ich entschuldigte mich, schnappte ihn mir und wir gingen nach Hause. Dort hab ich dann auch die ganze Geschichte meiner Mutter erzählt. Sie war natürlich nicht sauer, sagte aber,dass ich das nächste Mal sofort zu ihr kommen soll.
Ein nächstes Mal gab es zum Glück nie wieder bei mir.

Einmal zu Silvester machte ich mich fertig für eine Feier mit Freunden. Ich war in einem Zimmer, das weiter weg lag vom Wohnzimmer. Und doch hörte ich plötzlich die Schreie meiner Mutter. Ich solle einen Krankenwagen rufen. Ich lief aus dem Zimmer. Noch im Laufen wählte ich die 112. Mein Bruder hatte wieder einen epileptischen Anfall. Daran gewöhnt man sich nie. Man weiß irgendwann was alles zu tun ist. Und trotzdem bleibt es mir auf ewig ein Geheimnis,wie man Ruhe bewahrt. Ich bin mir nicht sicher,dass es überhaupt Menschen gibt, die in solch einer Situation ruhig bleiben.
Man ruft den Krankenwagen. Man hofft,dass er pünktlich kommt. Und man zittert trotzdem am ganzen Körper und betet, dass das Scheiss-Krankenhaus einem erspart bleibt.
Irgendwann wenn die Krampfanfälle vorbei sind und mein Bruder todmüde aus unseren Händen auf die Couch fällt,rufen die Leute vom Krankenwagen an und fragen,wie sie denn zu unserem Eingang besser durchfahren können. Alter, ganz ehrlich, ich weiß es nicht und es ist mir auch herzlich egal. Das müssten sie wissen. Tun sie aber nicht. Das ist noch enttäuschender. Besonders,wenn man bedenkt,dass wir mit einem epileptischen Anfall nicht klar kommen würden. Man weiß nie!
Ich weiß aber, dass ich mich nicht auf die Sanitäter verlassen kann.
Ich kam übrigens noch zu der Silvesterfeier. Der Anfall verging sehr schnell. Wahrscheinlich war er ausgelöst von den ganzen grellen Lichtern, die selbst einem Nicht-Epileptiker Anfälle verursachen würden. Seit knapp anderthalb Jahren gab es keine Anfälle…

 

Wie lebt man mit einem Autisten teil IV

Therapien!
Bis zur Diagnose ‚Autismus‘ wussten wir nichts von Logopädie, Ergotherapie, Einzelfallhilfe, Musiktherapie, Kunsttherapie, Pferdetherapie, ABA (autism behaviour analysis), teacch, Pecs Delphintherapie, Hundetherapie…das könnte ich den ganzen lieben langen Tag lang weiter aufzählen.
Das aufzählen alleine bringt jedoch gar nichts, wenn man all diese Therapien nicht ausprobiert und die nötigen individuell für sein Kind herauspickt. Dabei muss man einfach verstehen, was das Kind kann, worin seine Stärken liegen und worin es Schwierigkeiten hat.
Bei meinem Bruder ist es so, dass er ein ausgezeichnetes Gedächtnis hat. Puzzle kann er in Sekundenschnelle zusammenstellen. Neue Wege merkt er sich für immer. In allem anderen hat er einen Stand eines 5-jährigen Kindes.
Seine erste Einzelfallhelferin war Kunsttherapeutin, ihr haben wir sehr viel zu verdanken in Hinsicht auf Empathie, Augenkontakt, Interaktion und eine gewisse Art der Kommunikation. Lange Zeit war sie seine wichtigste Bezugsperson. Auch hat sie immer wieder mit uns gesprochen, uns motiviert und wenn nötig auch zwischen uns geschlichtet,wenn meine Mutter und ich uns nicht einig waren.
Generell sollte sich jede Familie, die ein besonderes Kind hat nach einer Diagnose auch selbst zum Therapeuten begeben. Egal wie stark und stabil man ist, irgendwann wächst das einem über den Kopf.
Ich selbst habe mein Ventil in der Beschäftigung mit dem Autismus gefunden. Ich wollte den „Feind“ kennen,bis ich endlich verstand,dass es kein Feind im herkömmlichen Sinne ist. Ohne zusätzliche Therapie ging es dann aber trotzdem nicht. Mit 23 wandte ich mich an eine tolle Psychoanalytikerin. Sie half mir meine Erinnerungen, Erfahrungen und Vorurteile auszusprechen und zu verarbeiten. Man hat als Geschwisterteil immer das Gefühl zurückstecken zu müssen. Ich glaube,dass ändert sich auch dann nicht,wenn man selbst und das besondere Kind erwachsen werden. Und man muss verstehen, dass die Eltern keine Schuld trifft. In unserem Fall verdient meine Mutter ein Ehrendenkmal, denn sie hat das alles im Alleingang gerockt!

An dieser Stelle wünsche ich allen Müttern einen wundervollen Tag!

Wie lebt man mit einem Autisten Teil III

In diesem Teil erzähle ich davon, welche Schwierigkeiten es des Öfteren mit Autisten beim Essen geben kann bzw von denen, die wir durchgemacht haben!

Essensgewohnheiten – das ist der wahrscheinlich schwierigste Punkt. Ich habe sehr wenig Vorstellung davon, wie andere Familien mit dieser Situation umgegangen sind, bei uns war es teilweise die Hölle.

Als mein Bruder vier Jahre alt war, hat er seine Lebensweise in Hinsicht auf Mahlzeiten komplett umgestellt. Ab nun verzichtete er vollständig auf Abwechslung!
Russische Teigtaschen waren das einzige, was er zu sich nahm. Und das auch ausgewählt. Mal aß er nur den Teig,Mal nur das Fleisch. Völlig egal, was man ihm auf den Tisch stellte, landete früher, oder später auf dem Boden, an der wand, im Müll – niemals jedoch in seinem Mund!
Unsere Mutter war am Verzweifeln.

Ich sage das nicht oft, aber McDonald’s sei Dank, dass es das gibt. Ungefähr zum sechsten Geburtstag meines Bruders gingen wir dorthin und er ließ sich nicht ohne Begeisterung mit Pommes frites füttern und biss auch einige Male vom Burger ab.
Ab diesem Zeitpunkt aß er bei McDonald’s alles, Zuhause weiterhin nur ausgewählte Produkte.
Eine lange Periode widmete er dem Buchweizen.

Ich bin kein Spezialist in Sachen Ernährung,aber ich bezweifle,dass das auch nur im entferntesten gesund ist.

Mit Beginn der Pubertät änderte sich dann alles schlagartig. Er begann alles zu probieren, alles anzunehmen. Wahrscheinlich haben wir da vor Freude angefangen ihn mit allem möglichen Mist zu verwöhnen, sodass er den Genuss des Essens nie lernen konnte, denn hier entstand ein neuer Kreis der Hölle für uns. Er aß alles, was sich in Reichweite befand. Essbar hin oder her – es landete in seinem Mund und anschließend im Magen. Kaugummis vom Boden, Steine, Stöcke, Blätter von Büschen, Putz von den Wänden, Minen aus Buntstiften und natürlich alles, was im Kühlschrank aufbewahrt wurde und was unsere Mutter kochte.
Das war nun unsere Strafe dafür,dass wir ihn nicht in Ruhe gelassen haben. Wie heißt es so schön

„…denn sie wussten nicht, was sie tun…“

Und wir wussten tatsächlich nicht. Bis heute hat sich sein Essverhalten insofern verändert,als dass er aufgehört hat Müll vom Boden zu essen. Ein Glück.
Zu seiner Verteidigung muss ich sagen,dass er einen sehr starken Magen hat und selten krank wird.

Die Besuche bei McDonald’s haben wir ebenfalls auf ein Minimum reduziert.

Wie lebt man mit einem Autisten Teil II

Mittlerweile müsste allen bekannt sein, dass der Autismus viele Gesichter hat und sich somit bei jedem unterscheiden kann. Und zu sagen, dass alle Autisten gleich sind, wäre genauso dumm, wie zu sagen, dass alle Menschen gleich sind.

Nach knappen 20 Jahren Beschäftigung mit diesem Thema habe ich mich mittlerweile für eine Theorie als Grund des Auftretens von Autismus entschieden. 

Zu Beginn war ich überzeugt davon, dass es tatsächlich, wie Freud gesagt hat, daher rührt, dass Mütter zu wenig positive Emotionen zeigen.

Unsere Mutter hat immer alles für uns getan und selbstverständlich wissen wir, dass sie uns liebt, aber zeigen konnte sie es nie so richtig. Das färbt logischerweise ab. Nicht nur auf das autistische Kind, sondern auf alle.

Nun halte ich mich an die Theorie, dass der Autismus seinen Kern in den Spiegelneuronen findet.

bauer spiegelneurone

Das absolut empfehlenswerte Buch, vom Professor für Neurobiologie Joachim Bauer hat mich vollends überzeugt. Er schreibt in “Warum ich fühle, was du fühlst”, dass speziell diese Neurone für das menschliche Miteinander stehen und ohne deren “richtige” Funktion keine vollwertige Kommunikation stattfinden kann. Da kann ich mitgehen.

Das Beispiel mit dem Gähnen, wenn ein anderer Mensch in der unmittelbaren Umgebung gegähnt hat, überzeugte mich schließlich. Mein Bruder tut das nicht. Das spricht dafür, dass sein Empathieempfinden nicht vollständig ausgeprägt zu sein scheint. Er achtet nicht immer auf die Gefühle seiner Familienmitglieder. Aber er kann trotzdem trösten, wenn man ihn darauf aufmerksam macht. Und das sollte man von Beginn an tun. Den Autisten in die eigene Gefühlswelt einzubeziehen, bedeutet, dass er diese mehr und mehr zu verstehen lernt.

Ich war mit meinem Bruder immer sehr nah und bin es auch heute noch. Obwohl er nicht mehr bei unserer Mutter wohnt und wir uns seit seinem Auszug aus Hotel Mama seltener sehen.

Umgezogen ist er letzten Sommer in eine betreute Wohngruppe in Treptow. Das war der größte Jackpot, den unsere Familie hätte knacken können. Es ist eine wunderbare Möglichkeit für meinen Bruder sich zu entfalten und endlich aus den behütenden Händen unserer Mutter herauszukommen.

Ich habe keine Kinder und weiß somit nicht, was es bedeutet seine Kinder gehen zu lassen, sie sich selbst zu überlassen und aus Distanz zuzuschauen, wie sie nun eigenständig zurechtkommen. Ich kann mir aber gut vorstellen, dass es bei allen Kindern schwerfällt. Wenn dann noch zusätzlich Beeinträchtigungen im Alltag des Kindes auftreten, kann es nur herzzerreißender sein.

Die Wohngruppe war für meine Mutter ein Fluch und Segen zugleich. Sie schaffte es mit ihren 57 Jahren nicht mehr meinem Bruder den Zustand der Sorglosigkeit zu geben und das wusste sie, aber ihn in fremde Hände anzuvertrauen war ebenso nahezu unmöglich für sie. Das erste Jahr war emotional hart…

Wie lebt man mit einem Autisten? Teil I

Er ist 20 Jahre alt. Hat ein verschmitztes Lächeln im Gesicht. Und hält die ganze Familie auf Trab. Immer. Ohne Unterbrechung.

Als er 2 war begann die Kita die Alarmglocken zu läuten. Es hieß er habe Probleme mit dem Gehör. Dies konnte der Kinderarzt nicht bestätigen.

Er sprach kleine Sätze. Mochte verschiedene Kindersendungen. Und spielte ununterbrochen mit Löffeln. Wir fragten uns warum er dies tat, aber wir dachten nicht an Autismus. Wir wussten nichts vom Autismus. Bis zu diesem Moment haben wir ein solches Wort nicht einmal gehört.

Der Kinderarzt schickte meinem Mutter mit meinem Bruder zum SPZ. Zum Sozialpädiatrischen Zentrum der Charité in Berlin. Dieser Termin veränderte unser aller Leben.

 

Etwas routiniert immer und immer wieder zu wiederholen, stelle ich mir als Nicht-Autistin ziemlich anstrengend vor. Als damals 11-jährige konnte ich zwar nicht verstehen, dass es mit einer Verhaltensauffälligkeit zu tun hat, jedoch konnte ich sehen, dass meinem Bruder das sehr wichtig ist. Er hatte die Routine nötig. Damit er sich wohl fühlen konnte, oder, um sich als “vorhanden” zu empfinden.

Eine Definition vom Autismus hat sich mir schon damals ins Hirn gebrannt.

“Er lebt in seiner eigenen Welt”

hieß es von einem der vielen Psychiater, Psychologen und Psychotherapeuten, bei denen wir nun mit meinem Bruder zu Stammkunden wurden.

Bis heute verwende ich diese Definition, wenn Menschen mich fragen, was es mit dem Autismus auf sich hat. Meistens mache ich das, damit ich nicht noch mehr erklären muss. Denn wer weiß es besser, als die Menschen, die zusammen mit Autisten leben, dass es gar nicht so ist. Er lebt in unserer Welt. Mit uns. Nur mit einem anderen Blick auf diese.

Ich habe mich auf meinen Bruder sehr gefreut als meine Mutter schwanger mit ihm war. Ich erhoffte mir egoistischerweise von einem kleinen Bruder Freundschaft und Geschwisterliebe. Ich bekam viel mehr.

Mit 3 Jahren hat er komplett aufgehört Worte zu sprechen. Seit dieser Zeit kommuniziert er mit uns nur durch Laute und Fingerzeig auf die Dinge, die er benötigte. Ein sehr eingeschränktes Kommunikationssystem würden jetzt viele sagen. Aber er konnte genauso seine Mimik nutzen und sich so mitteilen, was uns half ihn besser zu verstehen und sein Gefühlsleben zu deuten. Ja, mit Autisten zu leben bedeutet, man muss viel interpretieren und deuten. Das ist nicht immer sehr einfach. Es ist bei einem normtypischen Kind nicht einfach solange es die Sprache noch nicht beherrscht. Bei einem Autisten ist es doppelt so schwer, weil man nie weiß, ob man richtig liegt und das Kind zufrieden gestellt ist…